Gerne folgte der bekannte Autor Norman Liebold einer Einladung der Wellesweiler Alex-Deutsch-Schule, um der Klassenstufe 8 seine sozialkritische Novelle “Patentsache” vorzutragen und mit den Schülerinnen und Schülern über Text und Inhalt zu diskutieren. Initiiert und organisiert wurde die Veranstaltung von Lehrer Jan Grüntjes.

Gemeinsam hatten Grüntjes und Liebold geeignete Erzählungen aus dem breit aufgestellten Gesamtwerk des Autors gesichtet und sich für die Novelle mit dem Titel “Patentsache” entschieden. Einen durchaus fordernden Text, der die innerdeutsche Teilung, die Wiedervereinigung, die Propaganda-Sprache des DDR-Regimes und die Überwachung durch die Stasi ebenso thematisiert wie er die modernen und zu Zeiten der DDR noch unbekannten „sozialen Medien“ ins Visier nimmt. Keinesfalls ein Widerspruch, denn das staatlich organisierte Spitzelsystem der damaligen DDR und die sozialen Medien der Gegenwart beschwören mit der zielgleichen Schaffung eines „gläsernen Menschen“ dieselben Gefahren herauf.

Nicht zuletzt würde die Lesung auch sprachlich eine Herausforderung für die jungen Zuhörer darstellen, darüber waren sich Grüntjes und Liebold einig. Besonders dann, wenn der ehemalige Staatssicherheitsagent als Hauptfigur der Erzählung in den Jargon leninistisch-marxistischer Polemik verfällt oder die Geschichte der elektronischen Datenverarbeitung „EDV“ mit den entsprechenden Fachbegriffen zusammenfasst. Einig waren sich Lehrer und Autor im Vorfeld aber auch in dem Punkt, dass gerade bei entsprechender Unterstützung Neugier und Wunsch nach Erklärungen erzeugt werden könnte, zumal darauf gesetzt werden durfte, dass die Novelle als “Agententhriller” mit skurril-surrealen Situationen und Situationskomik durch die lebendige Performance zwischen Lesung und Theater die Hörer in ihren Bann ziehen würde. Eine Veranstaltung also mit experimentellem Modellcharakter, auf deren Ausgang man gespannt sein durfte.

Zu Beginn stellte Grüntjes den Autor vor. Geboren 1976, wuchs Liebold in der ehemaligen DDR auf. Dort wurden seine Eltern Opfer der Staatssicherheit, als er in demselben Alter wie die Schülerinnen und Schüler gewesen ist.

     

Das Interesse war somit geweckt und in offener Diskussion machte Liebold die Zeit vor der Wende erlebbar, auch mit persönlichen Erlebnissen eines Kindes, dessen Eltern unter Verhören, Ausgrenzung und Bedrohungen zu leiden hatten. Nur wenigen der jugendlichen Zuhörer war bewusst, dass Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg fast 30 Jahre lang durch eine todbringende Grenze aus Beton, Stacheldraht und Minenfeldern geteilt war und sich die beiden politischen Systeme in feindseliger Haltung gegenüber standen. Dem allgemeinen Erstaunen folgten Interesse und Entsetzen gleichermaßen. Vielleicht auch vor dem sehr aktuellen Hintergrund, dass Russland als frühere Schutzmacht der DDR in seiner erschreckend aggressiven Vorgehensweise erneut einen tiefen Graben zwischen Ost und West aufgeworfen hat.

Mit einer Improvisation auf der Klarinette schuf Liebold den Übergang zum Beginn der eigentlichen Lesung. Die Geschichte beginnt damit, dass ein sehr kurioser älterer Herr einen Anwalt für Urheberrechtsverletzungen aufsucht. Es stellt sich nach und nach heraus, dass es sich um einen untergetauchten Funktionär der Staatssicherheit handelt, der 1984, also noch zu „Glanzzeiten“ der DDR, den perfekten Plan zur totalen Überwachung entwickelt hatte. Während er seinen Plan im Duktus sozialistischer Phrasen mit zunehmender Erregung darstellt –  der gelernte Schauspieler Liebold wanderte hier brüllend  durch die Reihen seiner Zuhörer – zeigen sich die Parallelen zu den heutigen Erscheinungen von „social media“ wie Facebook, TicToc, Tinder und Snapchat. Der Plan des Stasi-Funktionärs scheitert letztlich, nachdem er die homosexuelle Beziehung eines Ministers aufgedeckt hatte. Eine Affäre, für die es im menschenverachtenden System der DDR nicht die Spur von Toleranz gab.

In kluger Voraussicht hatte sich unser verhinderter Erfinder seine Überwachungspläne aber zuvor patentieren lassen. Nun fordert er vom Anwalt, dass dieser die Lizenzrechte an Internet, Online-Shops, Facebook und social media für ihn einklagt. “Das ist Sprengstoff!” schreit Liebold begeistert in der Rolle des Anwalts. “Wir werden sowas von stinkreich!”

Das ist der Punkt, an dem die Geschichte kippt: Der deutsche Bundesnachrichtendienst BND und ein offensichtlich amerikanischer Geheimdienstler stehen plötzlich im Büro und lassen alle Beweise verschwinden. Der Anwalt stolpert seitdem verunsichert durch eine ihm fremd gewordene Welt, in welcher der Stasi-Plan von den amerikanischen Geheimdiensten CIA und NSA nach der Wende Stück für Stück umgesetzt worden ist: Jetzt plötzlich sieht er überall Kameras, sein eigenes Smartphone wird ihm zur Super-Wanze.

Gut 60 Minuten lauschten die Achtklässler dem Literaturvortrag. “Boa, habe ich mich erschreckt”, lacht einer mit Grinsen, und es ist nicht ganz sicher, ob er die Momente meint, wo Liebold aus seinem Lesestuhl hochspringt und erregt als ein um seine Erfindung betrogener Stasimann gegen den Imperialismus wettert – oder weil er sich vielleicht dessen bewusst geworden ist, wieviel er von sich auf TicToc und Instagram preisgibt. Der Lesung folgte eine lebhafte Diskussion, die sich über Influenzer, Youtuber und über persönliche Erfahrungen mit social media bis hin zu Fragen an den Autor erstreckte. Beispielweise, ob er denn persönlich auch auf Youtube, Instagram und Facebook vertreten sei und man seine Bücher auch auf Audible anhören könne. Liebold bejahte dies mit einem Schmunzeln und einem dezenten Hinweis auf sein eigenes Verhalten im vorsichtigen Umgang mit sozialen Medien: “Wenn Ihr Lust daran habt, da gibt es noch andere Geschichten zum Anhören. In eurer Schulbibliothek lasse ich ein paar Bücher – die kann man auch lesen. Morgen gibt es bestimmt ein paar Bilder von heute auf Insta. Aber wenn Ihr auf Facebook geht, werdet Ihr nicht herausfinden, wie alt ich bin, ob ich eine Frau und Kinder habe und welcher Religion ich angehöre…”
Nach anhaltendem Applaus bedankte sich Liebold bei seinen Zuhörern für das Interesse und bei Jan Grüntjes für die Organisation. “Das hat alles geklappt wie am Schnürchen, selbst der Pausenkaffee bei euch ist eine Erwähnung wert!”, befand der Autor und vielseitige Allrounder am Ende eines durchaus gelungenen Vormittags.

Bericht und Bilder: Jan Grümtjes und Erich Hoffmann